11. Dezember – Arbeitskultur International: Österreich
Leiterin AG Kind und Karriere
Titel, Abschluss, Zertifikate und Hierarchiestufe sind hier sehr wichtig, fast wichtiger als Leistung. Bemerkenswert fand ich wie viel Aufwand in Zusatzqualifikationen gesteckt wird und mit welcher Präzision diese dann in den Signaturen oder sogar in der Anrede verwendet wird. Spannend war für mich auch mit welchem Respekt ich als Dipl.Ing. (Dipl.-Wirt.-Ing gibt es hier nicht) behandelt wurde, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Neben dem Titel sind die Kollegen meist sehr Obrigkeitshörig: ohne klaren Auftrag vom Vorstand passiert selten etwas. Diese Aufträge werden dann auch selten offen in Frage gestellt und auf Punkt und Beistrich ausgeführt, auch wenn es inhaltlich nicht sinnvoll ist. Beeindruckt hat mich, dass die meisten Führungskräfte ein ehrliches Feedback unter 4-Augen dennoch zu schätzen wissen und sehr interessiert andere Meinungen aufnehmen. Andere wiederum haben das Bedürfnis auf eine neue Idee mit einer Belehrung zu reagieren, um ihre Position zu stärken.
Besonders in Wien „raunzen“ die Leute gerne, was so viel heisst wie sich über Gott und die Welt beklagen. Nur sehr selten entsteht daraus proaktiv ein Lösungsvorschlag und wenn doch wird dieser schnell wieder zerredet, weil es in der Verantwortung der Politik, des Vorstands oder von Abteilung xy liegt. Beeindruckt hat mich, dass ich mit meiner proaktiven und lösungsorientierten Art hier schnell aufgefallen bin und mit etwas Ausdauer auch einiges bewegen kann. Lernen musste ich wie man intensiv Beziehungen und Netzwerke pflegt, denn die relevanten Entscheidungen werden außerhalb der Meetings getroffen. Erfolgsentscheidend ist es die richtigen Leute zu kennen, Ideen in 4-Augen-Gesprächen vorzubereiten und Zeit für privaten Austausch z.B. über den letzten Urlaub oder Sportevents bei Meetings einzuplanen. Da Österreich im Vergleich zu Deutschland recht klein ist kennt meist jeder die Skihütte oder die Wanderroute von der gerade die Rede ist und so gehen Urlaubsberichte meist weit über die klassische Small-Talk Ebene hinaus. Zusammenarbeit findet nur statt, wenn man sich persönlich sympathisch ist, das gilt auch im politischen Umfeld.
Sehr fortschrittlich ist dagegen die Kinderbetreuung hier in Wien. Ob privat oder öffentlich, die Plätze sind alle staatlich gefördert und stehen somit kostenlos bzw. für einen bezahlbaren Zusatzbeitrag zur Verfügung. Alle öffentlichen Einrichtungen und Museen haben ein Kinderprogramm für verschiedene Altersstufen. Gesellschaftlich herrscht hier eher noch das klassische Familienmodell vor und die Mütter arbeiten in der Regel maximal halbtags. Viele Unternehmen bieten dennoch eigene Betriebskindergärten und Ferienbetreuung an. Auch die Stadt Wien stellt in den Ferien ein bemerkenswertes Programm für Kinder zusammen (mit und ohne Eltern). Beruf und Familie lässt sich somit recht gut vereinbaren. Die Privatsphäre wird sehr ernst genommen und zumindest bei uns sind Meetings nach 15 Uhr eher selten. Der Freitag ist schon vom Arbeitszeitmodell mit einer Kernzeit bis 12 Uhr kürzer angesetzt und das wird auch tatsächlich sehr konsequent so gelebt.
Wir leben sehr gerne in Wien und werden sicher noch eine Weile bleiben und freuen uns immer wieder über Besuch aus dem Netzwerk 🙂